Nüchtern: Über das Trinken und das Glück
- breuer-coaching
- 21. Jan.
- 3 Min. Lesezeit
Daniel Schreibers Nüchtern ist bereits 2016 erschienen, und doch hat es nichts von seiner Dringlichkeit verloren. Kürzlich habe ich es zum zweiten Mal gelesen – und wie beim ersten Mal hat es einen tiefen Nerv getroffen. Auf nur knapp 150 Seiten entfaltet Schreiber eine schonungslose, aber zugleich einfühlsame Auseinandersetzung mit seiner eigenen Alkoholsucht. Es ist eine persönliche Geschichte vom „Selbstverlust“, von der zerstörerischen Kraft des exzessiven Konsums und vom mühsamen Weg zurück zu sich selbst.
Schreiber beschreibt, wie schwer es ihm fiel, die Leere und das Unglücklichsein, die ihn begleiteten, als Folge seines Trinkens zu erkennen – und nicht als dessen Ursache. Der Alkohol wurde für ihn zum Mittel, um Schmerz und Konflikte zu betäuben, doch stattdessen verschärfte er sie nur. Beziehungen zerbrachen, Vertrauen wurde zerstört, und er selbst entfremdete sich immer weiter von sich und seiner Umwelt. Seine Rettung fand er schließlich bei den Anonymen Alkoholikern, einem Netzwerk, das ihn auffing und ihm einen Weg zeigte, das Leben nüchtern zu meistern.
Doch Schreibers Buch ist weit mehr als eine autobiografische Erzählung. Es ist zugleich eine soziologische und psychologische Untersuchung unserer kollektiven Beziehung zum Alkohol. Mit präziser Klarheit beleuchtet er, wie tief der Alkohol in unserer Gesellschaft verwurzelt ist – als sozialer Schmierstoff, als Mittel zur Stressbewältigung, als vermeintlicher Ausdruck von Lebensfreude. Dabei zeigt er auf, wie sehr wir uns als Gesellschaft selbst betrügen, indem wir die Gefahren des Alkohols verharmlosen und die Betroffenen stigmatisieren.
Während in den USA längst Fortschritte in der Entstigmatisierung von Alkoholismus gemacht wurden, ist das Thema in Deutschland nach wie vor mit Scham behaftet. Alkoholismus ist hierzulande zwar als Krankheit anerkannt, doch der Umgang damit bleibt oft von Schweigen und Tabuisierung geprägt. Schreiber beschreibt diesen Widerspruch eindrucksvoll, indem er auch die „Geschlechtercodes der Abhängigkeit“ und die seelischen Wunden thematisiert, die der Alkoholkonsum bei den meisten Betroffenen hinterlässt.
Eine zentrale Erkenntnis des Buches ist, dass echte Heilung nur durch eine radikale Hinwendung zu sich selbst möglich ist:
„Die Grundlage für jedes nüchterne Leben ist daher – nach meiner Erfahrung und der Millionen anderer nüchtern lebender Menschen – eine echte Sorge für sich selbst. Diese Sorge besteht darin, sich all jenen Konflikten und unangenehmen Gefühlen zu stellen, die einmal zum Trinken beitrugen. Sie besteht darin, sich wirklich selbst kennenzulernen, Verantwortung dafür zu übernehmen, wer man ist, und dieses authentische Selbst nicht an Dinge zu verraten, die schnelle Befriedigung versprechen.“
Diese ehrlichen Worte machen Nüchtern zu einem Buch, das lange nachhallt. Es ist eine Erinnerung daran, dass Alkoholismus ein schleichender Prozess ist, der uns oft erst bewusst wird, wenn es beinahe zu spät ist. Kontrolliertes Trinken wird dann unmöglich, und der Weg in die völlige Abstinenz erfordert schmerzhafte, aber transformative Prozesse.
Schreiber bringt diese Erkenntnis mit einer Klarheit auf den Punkt, die zum Nachdenken anregt:
„Zu trinken, um den Lärm im Kopf zu beruhigen, um die Schuldgefühle, Unsicherheiten und zurückgehaltenen Vorwürfe handhabbar zu machen, die übertriebenen Erwartungen an sich selbst oder das Gefühl der Bedeutungslosigkeit zu bewältigen, ist eine ganz und gar unsinnige Strategie. Die Wahrheit ist, dass man dem Leben nichts, rein gar nichts abringen muss, keine einzige Erfahrung und erst recht keine Karriere, keine großen Ideen, Werke oder Bücher. Die Wahrheit ist, dass das Leben immer schon genug ist.“
Daniel Schreibers Nüchtern ist ein Buch, das man immer wieder lesen kann – und vielleicht auch sollte. Es ist ein literarisches Denkmal für die Kraft der Ehrlichkeit, die Möglichkeit des Neubeginns und die Bedeutung, sich selbst ernsthaft zuzuwenden. Ein Buch für alle, die den Mut haben, den eigenen Konsum zu hinterfragen – und sich selbst dabei besser kennenzulernen.



